Christian Holl
Identität und Internationalität
Die Gebäude und Entwürfe von schneider+schumacher zeichnen sich durch Klarheit und Präzision aus. Diese Qualität steht in enger Wechselwirkung zur Arbeitsweise und Kommunikation im Büro. Das eine hat sich aus dem anderen entwickelt, ohne dass sich das eine – die Architekturauffassung – und das andere – die Arbeitsweise – in Wirkung und Ursache aufteilen ließe. Es sei eine wichtige Übung, zu einem frühen Zeitpunkt den ersten Absatz des Erläuterungsberichts zu schreiben, so Michael Schumacher. Dann wisse man, ob Prioritäten und Qualitäten einer Lösung so präzise vergegenwärtigt seien, dass sie immer wieder als Kontrolle in der weiteren Projektentwicklung herangezogen werden könnten. Das bedeutet nicht, dass man sich an die erste Idee klammern müsste – es ist aber ein Maßstab, an dem sich ein Entwurf im späteren Stadium messen lassen kann: Lässt sich das Ganze stimmig beschreiben, kann man verstehen, worauf es ankommt. Dann hat es eine Struktur, die vermittelt werden kann. Dazu werden die Arbeiten in wichtigen Momenten auch Personen im Büro vorgestellt, die nicht am Entwurf beteiligt sind – ihr unvoreingenommener Blick zeigt, ob die Argumentation schlüssig, die Entwurfsentscheidungen nachvollziehbar sind.
In diesem permanenten Austausch entsteht so etwas wie ein gemeinsamer Spirit – der gewährleistet, dass nicht jede Arbeit von den beiden Bürogründern kontrolliert werden muss. Das schließt ein, dass sich bewährte Lösungen wiederholen können. Michael Schumacher zitiert in diesem Zusammenhang Mies van der Rohe, von dem es heißt, er habe gesagt, man könne nicht jeden Montag die Architektur neu erfinden. Stattdessen empfahl er: Mach es groß und mach es oft.
Auf dieser Basis ist erst nachvollziehbar, wie es funktionieren kann, auch Bürostandorte in anderen Ländern zu führen, ohne die klare Linie zu verlieren. Zur Gründung kamen dabei auch glückliche Umstände – in beiden Fällen waren es Wettbewerbsgewinne. In Österreich war es der für das neue Forschungs- und Entwicklungszentrum der Fronius International GmbH in Thalheim, Österreich. Hier trafen sich Bauherr und Architekt in einer übereinstimmenden Auffassung: Das neue Zentrum sollte auch etwas von der Firmenkultur nach außen vermitteln und als modernes Unternehmen in Erscheinung treten. Fronius ist weltweit in den Bereichen Schweißtechnik, Photovoltaik und Batterieladetechnitk tätig. Klarheit, Übersichtlichkeit, Flexibilität und gut organisierbare Funktionsabläufe waren maßgebliche Kriterien, die mit dem 2011 eröffneten Bau erfüllt wurden. Dabei standen offene und flexible Strukturen mit guter Orientierung, eine Fassade, die einen thermischen Beitrag zur Energiebilanz liefert, die Verwendung von erneuerbaren Energien sowie Natur- und Ressourcenschutz im Vordergrund.
Kontrollverlust ist Teil der Architektur, ein kalkulierter Teil des Spiels. Mit der Erfahrung lernt man einzuschätzen, wie weit man kommen könnte.
Michael Schumacher
Hierbei konnte auf eine inzwischen reiche Erfahrung an Projekten vergleichbarer Art an der Schnittstelle von Industrie und Dienstleistung zurückgegriffen werden. So hat man für die Firma Braun, deren höchster Anspruch in Design sich auch in der Architektur zeigen sollte, sowohl Lagerhalle wie Verwaltungszentrale errichtet. Für die Firma Hager, tätig im Bereich von Systemen der Elektroinstallationen, wurden nach Entwürfen von schneider+schumacher mehrere Gebäude an verschiedenen Standorten errichtet und dabei eine Fassadenlösung entwickelt, die sich flexibel auf verschiedene Anforderungen anpassen lässt und gleichzeitig das Tätigkeitsfeld des Bauherrn beziehen lässt: Das „An-Aus-Prinzip“ kombiniert offene und geschlossene Fassadenflächen und steht damit für die Funktionsweise elektrischer Systeme – entweder es fließt Strom oder es fließt keiner. Umgesetzt wurde dies im Wechsel aus Fensterbändern und Bändern aus weißen Beton- oder Faserbetonfertigteilen.
Da das Projekt Fronius von Frankfurt aus einen sehr konstruktiven und zielorientierten Verlauf nahm, entschied sich schneider+schumacher zur Gründung eines Büros in Wien. Mit Eckehart Loidolt, selbst Wiener, fand man einen Geschäftsführer, der mit den lokalen Gepflogenheiten vertraut ist. Die Schwierigkeit des kulturellen Unterschieds macht Till Schneider mit dem Aphorismus deutlich, der dem Kabarettisten Karl Farkas zugeschrieben wird: „Was den Österreicher vom Deutschen trennt, ist die gemeinsame Sprache.“ Das Wiener Büro ist mehr als nur ein wirtschaftliches Standbein, es sichert auch den Austausch – insbesondere im Bereich des Wohnungsbaus, wo gerade in Wien international viel beachtete Projekte in neuen Quartieren oder Stadtteilen wie der Seestadt Aspern oder dem Nordbahnhofviertel entstehen. Mit einem Wiener Projekt konnte man beispielsweise wieder in Frankfurt punkten. Im Wettbewerb „Wohnen für alle“ der Wohnbaugesellschaft ABG, der Stadt Frankfurt und des Deutschen Architekturmuseums DAM bewarb sich schneider+schumacher mit einem Projekt aus Wien – kam damit in die Runde der zehn Finalisten und gewann mit dem Wiener Team schließlich mit dem Entwurf "Max und Moritz", bei dem sich zwei Baukörper einen Aufzug teilen und so Erschließungsfläche reduziert wird. Gleichzeitig öffnet sich das Ensemble zum Quartier mit einem Platz, der die mögliche öffentliche Nutzung im Erdgeschoss stärkt. Angetreten im vorgeschalteten Auswahlverfahren war man mit dem kostengünstigen Wohnprojekt Podhagskygasse in der Donaustadt in Wien. Damit hatte schneider+schumacher in Zusammenarbeit mit der Projektbau 2011 den ersten Preis in einem Bauträgerwettbewerb gemeinsam mit der Neuland gemeinnützige Wohnbau-Gesellschaft m.b.H. als Bauträger gewonnen. Die damals von der Jury hervorgehobenen vier Entwurfs-Säulen – Architektur und Freiraum, Ökonomie, Ökologie und soziale Nachhaltigkeit – wurden damit erneut gewürdigt. In der Podhagskygasse gruppieren sich sechs Punkthäuser mit variablen Grundrissen um eine gemeinsame Mitte, die Ansprüche an Individualität und Gemeinschaft werden mit ökologischen und ökonomischen verknüpft. Eine nutzungsoffene Struktur erlaubt es, einfach möblierbare Wohnungen anzubieten und den Wohnungsmix nach Bedarf zu steuern. Dem entsprechen die differenzierten wohnungsbezogenen Außenräume. Die Qualitäten dieses Pilotprojekts sollen bald in weiteren Bauten desselben Bauträgers zum Tragen kommen.
Was wir in Wien und in Tianjin machen, bringt uns auch in Frankfurt weiter – im Portfolio, aber vor allem im Denken. Es erweitert den Horizont. Es ist wie ein Fenster, durch die man hinausschauen kann.
Till Schneider
Der Wohnungsbau ist nicht in einer Weise das Hauptarbeitsfeld von schneider+schumacher wie bei anderen Büros, aber er nimmt dennoch seit einigen Jahren eine wichtige Rolle im breiten Portfolio des Büros ein. Und wird in Zukunft durch Projekte in einer neuen Dimension erweitert, nicht allein durch die Wiener Dependance. Im Frankfurter Stadtteil Oberrad entstanden gerade erst Modellhäuser, die zeigen, wie heute kostengünstig gebaut werden kann. Das offene Treppenhaus reduziert Baukosten und zu beheizende Fläche. Wände aus Ziegeln sichern langfristige Qualität, das modular entwickelte System lässt sich auf jedes beliebige Grundstück anpassen. In Karlsruhe wurde bis 2018 eine Wohnanlage errichtet, wie man sie bisher noch nicht von schneider+schumacher kennt: in der verdichteten Form einer Teppichbebauung aus bis zu dreigeschossigen Typen unterschiedlicher Größe, die durch Höfe und Gärten strukturiert und aufgelockert ist. Eine zentrale Grünachse gliedert die Anlage, ein feingliedriges Erschließungssystem durchzieht sie und differenziert deutlich zwischen öffentlichen, privaten und gemeinschaftlichen Freiräumen.
Angesprochen darauf, ob es andere internationale Kontexte gibt, auf die sie neugierig seien, nennt Till Schneider Rotterdam, das sei „spannender als Amsterdam“. Hier spielten andere Themen eine Rolle, eine durch das 20. Jahrhundert geprägte Spannung, die nicht von einer starken Vergangenheit kompensiert wird – „hier muss man andere Antworten liefern“ – wie es etwa dort der neu gestaltete Hauptbahnhof tut, der auf eine neue Weise Stadtraum und Bahnhof verbindet und verschiedene Verkehrsträger miteinander vernetzt; eine aktuelle Form, Bahnhöfe neu zu erfinden. Auf eine andere Weise hatte man das im London der 1990er getan. In Kopenhagen wiederum beeindruckt ihn die sanfte Radikalität, die etwa die Gestaltung der öffentlichen Räume bestimmt, wie sie in Deutschland kaum zu finden ist. Die Freiheit, Räume in den Städten nicht unter dem Diktat des Automobilverkehrs zu gestalten, ist selten – aber zu finden: so etwa in Augsburg. Hier wird seit 2016 das Bahnhofsumfeld neu und einheitlich gestaltet, in großzügige, zusammenhängende Bereiche, die für den Fußgänger gut nutzbar sind. So wird der Bahnhof wieder als besonderes Gebäude erlebbar.
Die Neugier war auch eine Triebfeder dafür, ein Büro in China zu gründen – als eine Möglichkeit, sich den Dingen freier zu nähern, radikale Entwurfsansätze zu testen. Auch hier war der Gewinn eines Wettbewerbs Auslöser – 2011 gewann schneider+schumacher den internationalen Wettbewerb für das Civic Centre der Qianjiang Technologie City in Hangzhou. Die erfolgreiche Kooperation mit Nan Wang führte 2012 zur Bürogründung in Tianjin, die zuletzt von einem Wettbewerbsgewinn für ein vierziggeschossiges Bürohochhaus mit Einkaufspassagen in den unteren Geschossen gekrönt wurde. Versetzte Kuben werden durch verglaste Geschosse und ein verglastes Treppenhaus so freigestellt, dass sie wie lose in ein großes System eingehängt wirken, dabei aber Flächen für begrünte Terrassen und Begegnung schaffen.
Da die Sprache eine Barriere bildet, spielt die Kommunikation über Bilder eine noch größere Rolle, als sie es in China ohnehin schon tut. Man müsse sich darüber im Klaren sein, was die Menschen in einem Gebäude sehen könnten, so Michael Schumacher. „Das Spiel der Assoziationen wie mit der Stuttgarter Staatsgalerie würde in China nicht funktionieren.“ Hier kommt dem Büro zugute, dass es zulässt, dass sich Bilder über die Entwürfe festsetzen und eine Eigendynamik entfalten. So wird für die Erweiterung des Städel-Museums der grüne Hügel bemüht und eine Nähe zur Kunst von Victor Vaserely gesehen.
Zwei Beispiele sollten das illustrieren. 2014 gewann das chinesische Team von schneider+schumacher den Wettbewerb um den Neubau des Gerichtsgebäudes der chinesischen Metropole Shenzhen. Der Entwurf mit zwei übereinander angeordneten und gegeneinander verdrehten Quadern mag auf den ersten Blick rational und pragmatisch wirken – bezogen auf die Konstruktion und dessen Effizienz ist er es auch. Zudem gibt es eine funktionale Begründung: Im unteren Teil finden sich ein öffentliches Dienstleistungszentrum für alle Belange von Rechtsstreitigkeiten und ein rechtshistorisches Museum; im oberen Teil befinden sich die Gerichte erster und zweiter Instanz. Beide Teile sind von einer großzügigen Terrasse unterbrochen, von der aus man auf den Justice Square und die Qianhai Bay schauen kann. Dass aber der obere Teil den unteren überragt und so auf ihm zu balancieren scheint, kann mit dem Bild einer Waage in Verbindung gebracht werden – das uralte Symbol für den Ausgleich, der als Gerechtigkeit verstanden wird und dem das Rechtssystem verpflichtet sein muss. Darüber hinaus nimmt der Entwurf Bezug auf das chinesische Schriftzeichen 中 (zhong), das für „Zentrum“, „Mitte“ und „China“ steht.
Ebenfalls in Shenzhen wurde 2018 der Wettbewerb für ein Hochhaus gewonnen, das fast vollständig ein Rechenzentrum aufnehmen wird – er wird nahezu ausschließlich Großraumrechner beherbergen. Lediglich die Sockelzone wird öffentliche Funktionen aufnehmen, um das Haus in den Stadtraum integrieren zu können. Eine satinierte Glasverkleidung und glänzende Lamellen sorgen für die notwendige Kühlung und gleichzeitig für ein attraktives Äußeres, in dem sie das Umfeld über gebrochene Spiegelungen in der Fassade integrieren. Das ist insofern wichtig, als hier nicht wie sonst bei anderen Türmen, gleich ob für Wohnen oder Büros, die Nutzung in der Nacht für eine lebendige und abwechslungsreiche Fassade sorgt – hier sollte nachts nicht eine leblos wirkende Box stehen. Die lose aufgehängten Lamellen sorgen zudem für Bewegung in der Fassade, sie sind in Abschnitte mit zweierlei Oberflächen unterteilt und nehmen so die aus 1 und 0 aufgebaute Computersprache auf. Im Gesamten ergibt sich daraus die ins binäre System übersetzte Darstellung der irrationalen Zahl Pi – ein Verweis auf die Grenzen dessen, was auch mit noch so hochwertigen Maschinen erfasst werden kann: Auch die Mathematik ist nicht widerspruchsfrei. Damit verbindet sich das Paradox, dass es gerade die perfekte Funktionswiese eines Systems ist, durch die diese Grenze erst so erstaunlich und beeindruckend wird. Für das Funktionieren des Hauses ist dieses Spiel nicht maßgeblich, wird es aufgegeben, muss der Entwurf aber nicht grundsätzlich geändert werden. „Man darf nicht davon abhängig sein, dass es Pi ist“, so Michael Schumacher. „Aber es ist eine gute Story, die hilft, das Gebäude im Gedächtnis zu verankern.“